Die Mutter aller Vaterherzen
Der zerbrochene Spiegel liegt zerschollen in vielen großen und kleinen Scherben, sichtbar und verborgen, je nach dem, verstreut über seiner großen, weiten Welt: wo man noch mit dem Herzen lesen kann, fügt man sie zusammen, und wo nicht, funkt die Nacht dazwischen.


Lebens-geweihter Tod
Karfreitag - Gedenken an den Kreuzestod Jesu
Der Name Karfreitag leitet sich vom althochdeutschen „chara“ bzw. „kara“ ab, was Trauer und Wehklage bedeutet. Im Englischsprachigen Raum heißt der Karfreitag übrigens „Good Friday“. Wessen erinnern sich Christen an diesem Tag? Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse in Jerusalem etwa 33 Jahre nach Christi Geburt:
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Jesus wird in der Nacht verhaftet, verraten durch den Kuss des Judas Iskariot, einem der zwölf Apostel. Dann Verhör beim Hohepriester Kajaphas. Die Hohepriester und der Hohe Rat suchen nach Zeugen, um das Todesurteil gegen Jesus zu bewirken, doch deren Falschaussagen reichen nicht für eine Verurteilung.
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Auf die Frage der Hohepriester, ob er der Messias, der Sohn Gottes sei, antwortet Jesus: „Ich bin es.“ Damit ist Jesus in den Augen des Hohen Rats und der Hohepriester der Gotteslästerung schuldig. Sie fordern seine Verurteilung zum Tod. Jesus wird zum römischen Statthalter Pontius Pilatus gebracht, der das Todesurteil über Jesus sprechen soll. Auch Pilatus befragt Jesus, doch der schweigt und der Statthalter zweifelt an den Vorwürfen des Hohen Rates gegen Jesus.
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Da es zum Passah-Fest Brauch war, dass er einen vom Volk bestimmten Gefangenen freilässt, fragt Pilatus die Menschenmenge, wen er begnadigen solle. Das von den Hohepriestern aufgestachelte Volk fordert die Freilassung von Barrabas, einem verurteilten Verbrecher, und die Kreuzigung Jesu. Die Soldaten führen Jesus ab, setzen ihm eine Dornenkrone auf und verspotten ihn. Dann muss Jesus selbst das Kreuz zum Hügel Golgatha außerhalb von Jerusalem tragen. Doch auf dem Weg bricht er immer wieder unter der Last zusammen. Ein Mann namens Simon von Cyrene, der zufällig vorbeikommt, wird gezwungen, das Kreuz für ihn zu tragen.
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An der Hinrichtungsstätte Golgatha wird Jesus und mit ihm zwei Verbrecher, einer rechts und einer links von ihm, gekreuzigt. Es ist eine öffentliche Zurschaustellung seiner Todesleiden und seiner Hinrichtung am Kreuz. Dazu noch wird er von den römischen Soldaten und den umstehenden Menschen verhöhnt. Jesus allerdings bittet seinen himmlischen Vater um Vergebung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
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Um die sechste Stunde verdunkelt sich der Himmel und als Jesus nach drei Stunden am Kreuz stirbt, bebt die Erde und der Vorhang im Tempel reißt mitten entzwei. In den einzelnen Evangelien unterscheiden sich die letzten Worte, die Jesus vor seinem Tod am Kreuz sagt:
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Matthäus 27: 46 und Markus 15: 34: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Lukas 23: 46: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.
Johannes 19: 30: Es ist vollbracht!
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Vom Kreuz zum Gekreuzigten von Golgatha
Das Kreuz ist für die allermeisten Menschen unserer Tage, und das weltweit, mehr oder weniger nur noch ein Symbol für das Christentum. Dennoch ist das Kreuz nicht nur ein bloßes Zeichen, es ist das eigentliche Zentrum des christlichen Glaubens, an dem sich jedoch die Geister scheiden. Paulus, der Apostel der Heiden, spricht im Galaterbrief 5: 11 vom Ärgernis des Kreuzes. Er meint damit in erster Linie das Ärgernis für die Juden, doch auch heute distanzieren sich noch immer die meisten Menschen, wenn sie die Botschaft vom Kreuz hören, so wie sie in der Regel von überzeugten Christen vertreten wird. Kann es sein, dass uns ein verkürztes Verständnis des Kreuzes die Sicht auf das Wesentliche und Entscheidende verstellt? Lasst uns als Ausgangspunkt unserer Überlegungen einen der wichtigsten Theologen der Evangelischen Kirche Deutschlands der letzten einhundert Jahre hören, dessen bekannten Weihnachtsgruß aus der Gestapo-Haft wir bereits zitiert haben. Im letzten Kapitel seines wohl bekanntesten Werkes, Nachfolge, schreibt er:
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Die Gestalt des Christus auf Erden ist die Todesgestalt des Gekreuzigten. Das Ebenbild Gottes ist das Bild Jesu Christi am Kreuz.
Dietrich Bonhoeffer
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Wir sind unseres Erachtens angelangt am wichtigsten Punkt unserer Spurensuche mit dem Ziel, dem Nicht-Namen ein Gesicht zu geben. Gott ist unsichtbar und für unsere Sinne nicht greifbar, aber Jesus Christus ist sichtbar geworden, als er als Mensch damals in Bethlehem geboren wurde. Das Buch der Bücher formuliert im Kolosserbrief: Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung (Kol. 1: 15). Und im Hebräerbrief 1: 3 steht: Jesus ist das Abbild des Wesens des Vaters.
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Das Bild Jesu Christi, wie er am Kreuz Todesqualen erleidet, ist ein für alle Menschen zu verstehendes Bild des Leidens. Für viele Menschen ist es nur das. Doch wenn das Kreuz einen so zentralen Platz im Christentum hat, sollte es uns mehr erzählen können. Was kann es uns über die Black Box „Gott“ offenbaren? In den meisten christlichen Kreisen wird Jesus im Zusammenhang mit seiner Kreuzigung als „leidender Gottesknecht“ verstanden, analog zu Jesaja Kapitel 53, ein Text im Alten Testament, der als prophetische Ankündigung der Geschehnisse von Golgatha gedeutet wird. Leider bleibt man meist dabei stehen und übersieht, welche weitreichende Konsequenz sich aus dem Zitat von Dietrich Bonhoeffer und Kolosser 1: 15 sowie Hebräer 1: 3 eröffnet. Eine neue Perspektive auf das Kreuz (besser auf den Gekreuzigten): Vom leidenden Gottesknecht zum Vaterherzen Gottes.
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Denn es geht bei der Kreuzigung Jesu unseres Erachtens nach nicht nur um Schuld, sondern in erster Linie um Erkenntnis, in doppelter Hinsicht: 1. Um Gottes-Erkenntnis. 2. Um die Erkenntnis des eigenen Seins, des eigenen Menschenbildes. Kurz um die zwei Fragen: Wer bin ich? Und wer ist Gott? Verbunden über die dritte Frage: Wer ist Jesus Christus?
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Genauso wie Jesus durch seine Worte auf den Vater verwiesen hat, verweist sein Leiden und Sterben auf den Vater. Denn Jesu Leiden und sein Tod treffen genau ins Vaterherz Gottes, in die Mutter aller Vaterherzen, in ein scheinbar „leidendes“, ja ein scheinbar „gebrochenes“ Vaterherz. „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Johannes 14: 9). Das waren Jesu Worte am Abend vor seinem letzten Weg ans Kreuz auf die Bitte hin, die einer seiner Jünger, Philippus, äußerte: „Herr, zeig uns den Vater“.
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Das Kreuz redet zu uns sozusagen die folgenden Worte des Vaters: „Ich leide mit Euch. Ich teile Euer Leid.“ Im Gekreuzigten von Golgatha spiegelt sich sowohl das Leid des Menschen, als auch das des Vaterherzens Gottes, der auf seine Art genauso Leid trägt wie wir alle. Das Kreuz verbindet somit Gott, den himmlischen Vater, mit den Menschen. Nicht nur über eine traditionell betonte stellvertretende Strafe, die Jesus für uns erleidet, sondern viel direkter und existentieller. Die Verbindung ist das gemeinsame Leid, das uns „zusammenschweißt“. Damit können wir unser Leiden aus einer neuen Perspektive sehen, ihm eine neue Bedeutung geben, es wird zum Spiegelbild des „leidenden“ Vaterherzen Gottes.
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Das ist Stoff zum Nachdenken. Wenn wir wollen, können wir beim Nachdenken über das Kreuz, über den gekreuzigten Christus, nicht nur das Angesicht Gottes erkennen und einen Blick in die Augen Gottes tun. Wir können ihm sogar tief ins Herz blicken und die Mutter aller Vaterherzen entdecken.
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In der Katholischen Kirche gibt es die Darstellung der sogenannten Pieta, was Frömmigkeit oder Mitleid bedeutet. Weltberühmt ist die Arbeit von Michelangelo. Die Darstellung des verstorbenen Jesus in den Armen einer tottraurigen Mutter spiegelt oder symbolisiert das Vaterherz Gottes in nicht weniger eindrücklicher Weise, als es das Bild des leidenden Christus am Kreuz tut.
Beide Bilder, vor allem das des gekreuzigten Jesus, eröffnen uns einen tiefen Blick in das Vaterherz Gottes. Und darüber hinaus weisen all die ungezählten Leiden der Menschheit, die unser aller Leben beschweren und es für manche Menschen unerträglich machen, in dieselbe Richtung. Ein „leidender“ Gott? Eine unmögliche, ja Gotteslästerliche Vorstellung für manche, etwa im Islam. Ein scheinbar „gebrochenes“ Herz Gottes? Ist das überhaupt möglich? Wie kann ein vollkommener Gott zu einem traumatisierten Herz kommen? Genug Stoff, um nachzudenken. Dieses Vaterherz Gottes scheint geradezu menschlichen Charakters zu sein. Somit wäre die nicht so seltene Vorstellung, Leiden sei Gottesferne, komplett widerlegt. Denn mit dem Kreuz begegnet uns der himmlische Vater sozusagen auf „Augenhöhe“.
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Die Pieta von Michelangelo
Auf Augenhöhe mit Gott
Der Begriff „auf Augenhöhe“ ist eine heute gern verwendete Umschreibung für eine angemessene Kommunikation zweier Personen. Er wird laut Duden als gleichberechtigt, gleichrangig, gleichwertig verstanden. Um dieser These näher zu kommen, gehen wir an diesem Punkt zurück zum Prolog in diesem Buch, der Erzählung von Jakobs Heimreise. Zu den zwei entscheidenden Begegnungen: 1. Dem Ringen mit dem „großen“ Unbekannten am Jabbok (Genesis 32). Und 2. Die Versöhnung mit seinem Bruder Esau (Genesis 33). Wie wir bereits festgestellt haben, verwendet Jakob zur Bewertung beider Begegnungen den Begriff „das Angesicht Gottes sehen“. Hier noch einmal der Abschnitt über den nächtlichen Kampf am Jabbok:
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Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lass dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Mensch hast du gestritten und hast gewonnen. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen. Jener entgegnet: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.
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Die Identität des unbekannten Mannes wird im Text mit keinem Wort direkt angesprochen. Allein indirekt entsteht die Verknüpfung mit der Person Gottes durch die Schilderung der Auseinandersetzung, die sowohl körperlich als auch verbal stattfindet, und der doppelten Bewertung Jakobs, einmal, er habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und dann der Bedeutung der neuen Ortsbezeichnung Penuel, Gottesgesicht. Die Begegnung der beiden erscheint zudem auf einem Schlag merkwürdig und denkwürdig zugleich. Man kann nicht umhin, fasziniert und gefesselt zu sein. Und doch lässt die Geschichte den Leser zugleich mit Fragen, ja Rätseln, zurück. Ein Mann wird hier irgendwie zu Gott. Oder ist es umgekehrt? Gott wird ein Mensch. Irgendwie erreicht dieser Text einen sonderbaren Effekt. Die Grenze zwischen Gott und Mensch scheint irgendwie zu verschwimmen. Vielleicht ertappt sich der eine oder andere dabei, sich zu fragen, auf welche Art und Weise hier Gott dem Jakob begegnet ist. Die Theologie würde von einer Theophanie sprechen, der Erscheinung eines Gottes in der Menschenwelt oder Natur. Es gibt unterschiedliche Meinungen, wie das hier passiert sei. Die einen sprechen von einem Engel, der wie ein verlängerter Arm Gottes mit Jakob gerungen habe. Andere sehen in diesem geheimnisvollen Mann gar Jesus selbst. Wir wollen uns nicht an solchen Spekulationen beteiligen, denn als solche muss man diese Thesen wohl einordnen. Warum können wir nicht einfach den Text mit allen aufgeworfenen Fragezeichen so stehen lassen, wie er ist? Statt ihn in eine Schublade zu stecken und diese zuzuschließen. Ihn so interpretieren, wie es Orientalen, etwa die Beduinen, getan hätten, als Abbilder einer höheren Wirklichkeit. Staunen wir lieber wie die Geschichte weitergeht. Staunen wir doch in diesem Zusammenhang über die Versöhnung der Zwillingsbrüder und wie der Begriff „Angesicht Gottes“ wiederkehrt. Und versuchen wir, beide Begegnungen noch einmal Revue passieren zu lassen unter dem Aspekt Begegnung „auf Augenhöhe“.
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Sind der unbekannt Mann und Jakob auf Augenhöhe, d.h. gleichberechtigt, gleichwertig oder gleichrangig? Was meinen Sie? Wir denken, sie sind es gewissermaßen ja und sie sind es auf der anderen Seite wiederum nicht. Der Mann kann Jakob nicht nieder-ringen, nicht besiegen. Es entsteht so etwas wie ein Patt, obwohl Jakob schwer verletzt ist durch die Luxation seiner Hüfte. Der Mann bittet Jakob um die Beendigung des Kampfes. Mit der Begründung, dass die Nacht bald vorbei sein werde. Gleichzeitig fordert Jakob den Segen, den man ja nur von einer höher stehenden Person erhält. Jakob erscheint wie ein heldenhafter, ja fast frecher Gegner, nicht wie ein Opfer. Die Patt-Situation scheint sich zu Gunsten Jakobs zu wenden. Wie sagt doch der Mann: denn mit Gott und Mensch hast du gestritten und hast gewonnen. Könnten wir statt dem Begriff „auf Augenhöhe“ nicht auch das Wort „fair“ für diese eigentlich ungleiche Begegnung verwenden?
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Die Begegnung mit Esau am darauf folgenden Tag erscheint im grellen Gegensatz zu der Begegnung am Jabbok. Einmal des Nachts in der Dunkelheit, die sich in der „dunklen“, nicht komplett zu erhellenden Schilderung widerspiegelt. Ein „einfacher“ Mann wird dabei zu einem Hünen-haften Gegner, ja sogar Feind, der die Gestalt Gottes erhält, sozusagen alle unsere Vorstellungen sprengt, so wie der Verlauf der Begegnung selbst. Die Versöhnung der beiden ungleichen Brüder dagegen am hellen Tag, eine wunderbare wie „alltägliche“ Sache, und doch ist sie gerade hier nicht alltäglich. Esau, der für Jakob die größte Bedrohung seines Lebens darstellt, der geschworen hatte, an ihm Rache zu nehmen und ihn zu ermorden, entpuppt sich als der wiedergefundene „verlorene“ Bruder. So kommen sich die Zwillinge nach vielen Jahren der Trennung völlig unerwartet für Jakob und den unbedarften Leser, der den Ausgang der Geschichte nicht kennt, in einer von Herzen kommenden Umarmung so nahe, wie sie es sich seit frühester Kindheit nicht mehr gekommen waren. Die Schilderung der Versöhnung der Zwei: Esau lief ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals; er küsste ihn, und sie weinten.
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Zweimal nimmt die Erzählung eine verblüffende Wendung zum Guten. Die Klammer, die beide Begegnungen zusammenhält, ist - wie schon gesagt -der Begriff: „Das Angesicht Gottes“. Zweimal zeigt ein Höherer, ein Stärkerer, ein zu Fürchtender, ein anderes Gesicht, als erwartet wird. Segen des Nachts, gefolgt von Versöhnung am Tag. Das soll uns zurück führen zum Kreuz von Golgatha, zum Ebenbild Gottes im Bild des gekreuzigten Christus. Das Vaterherz Gottes das in seinem Leiden menschlich erscheint, ja gebrochen. Wie die von einer Lanze durchbohrte Seite des toten Jesus, aus der Blut und Wasser flossen. Beweis des Todes. Spiegelbild eines gebrochenen Vaterherzen. Ein Bild, das nicht der Tatsache des Vaterherzens unseres himmlischen Vater entspricht, denn es ist bei aller Gebrochenheit heil. Wenn wir von einem scheinbar gebrochenen Vaterherzen gesprochen haben, so habe wir darunter verstanden: Sein Mitgefühl und seine Liebe ist so unermesslich groß wie der Schmerz eines gebrochenen menschlichen Herzen, das trotzdem weiter liebt. Das ist eine Bildsprache in dem ein Widerspruch benutzt wird, um die unbeschreibliche Größe der Liebe Gottes zu beschreiben. (Ein Stich ins Herz ist eine hier unpassende deutsche Redewendung)
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Einschub: Eine Art Analogie: Die Licht-Brechung in der Natur. Lichtbrechung findet statt, wenn Licht auf eine Grenzfläche, also den Übergang von einem Medium wie Luft in ein anderes, wie Wasser, auftrifft. Hierbei wird ein Teil des Lichtes reflektiert, während ein weiterer Teil beim Durchgang der Grenzfläche seine Richtung verändert. Die Ausnahme stellen senkrecht auf die Grenzfläche auftreffende Lichtstrahlen dar. Diese werden nicht gebrochen. Bei bestimmten Einfallswinkeln des Lichts kommt es auch zu einer sogenannten Totalreflexion. Das heißt, jegliches Licht wird reflektiert ohne dass eine Brechung stattfindet. Der Mensch wendet dieses Prinzip als Brille seit langer Zeit an. Drei Grund-Typen gibt es: für Kurzsichtige, Weitsichtige und die Gleitsichtbrille als Kombination der beiden. Vielleicht weit hergeholt, aber doch zumindest eine Analogie, um unser Unvermögen, die Größe eines göttlichen Vaterherzen zu beschrieben, d.h. es bleibt ein unscharfes Bild.
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Obwohl das Bild vom gebrochenen Vaterherzens Gottes einen logischen Widerspruch enthält, hilft es uns doch beim Schärfer-Sehen. So wie in der Erzählung vom Kampf am Jabbok die Grenzen zwischen Mensch und Gott „verschwimmen“, aufgebrochen werden, stellt die Tatsache eines gebrochenen Herzens Gottes unsere langläufige Vorstellung von Gott in Frage. Das Gottesbild, das existiert, ob in der Vorstellung eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe, einer Gesellschaft oder Religion. Das vielleicht durch dieses Buch bei manch einem Leser herausgefordert oder gar erschüttert wurde. Wir haben vom Vaterherzen geschrieben, die Mutter aller Vaterherzen als Begriff verwendet, um dem Nicht-Namen – zwar keinen Namen – doch ein Gesicht zu gegeben. Nein es ist eigentlich viel mehr, wir schauen ihm direkt und unmittelbar ins Herz. Wir werden später fast provokativ schreiben: Von Gott zum Vater. Haben wir damit gar einen Griff daneben, Sie wissen schon, getan? Gott den Schöpfer, Gott den Richter, wir haben diese Aspekte ganz hinter Gott den Vater gestellt. Und damit Jesus den Anwalt. Zu Recht? Oder zu Unrecht? Kann man diese drei Aspekte Gottes überhaupt voneinander trennen, wie man vielleicht nach den Ausführungen denken könnte?
Vater - Schöpfer - Richter
Was unterscheidet die Begriffe Vater, Schöpfer und Richter, welche zur Beschreibung Gottes verwendet werden? Richter ist eine Berufsbezeichnung für einen Juristen, der in Gerichtsverhandlungen die Entscheidung fällt, ob ein Angeklagter schuldig oder unschuldig ist. Die zeitlich begrenzte Aufgabe, ein Richter zu sein, findet in einem vorbestimmten Rahmen statt, dem Gesetzeswerk, das dafür gilt. Der Richter steht dabei unter dem Gesetz, er darf es nicht brechen, er muss sich daran halten. Mit dem Urteilsspruch endet die Beziehung zwischen dem Richter und dem Angeklagten. Der Begriff Richter wird in der Bibel auch mit Gott in Verbindung gebracht. Wir müssen jedoch aufpassen, hier nicht eine weitere grundlegend falsche Projektion von der Erde hinauf in den „Himmel“ zu machen. Gott als Richter, wenn es ihn so denn gibt, handelt jedoch immer als Vater. Und über seinen Sohn Jesus Christus und über das Kreuz von Golgatha. Mehr zu diesem „heißen Eisen“ später.
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Nicht nur Gott ist ein Schöpfer. Auch Menschen sind Schöpfer, d.h. sie erschaffen Dinge und Zustände. Künstler erschaffen etwa Kunstwerke, Architekten und Bauleute Gebäude. Politiker erschaffen Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft. Beim Schöpfungsprozess entsteht aus einer Idee, eine Sache, eine kleine oder große „Welt“. Schöpfung ist deshalb nicht gleichzusetzten mit „aus dem Nichts etwas erschaffen“. „Von Nix kommt Nix“ gilt auch hier. Ohne Idee, Information, keine Schöpfung. Ein Schöpfer hat ebenfalls eine „Beziehung“ zu seiner „Schöpfung“. Vor allem im Prozess der Entstehung des Werkes. Wenn es dann fertig ist, ist er mehr oder weniger zufrieden damit. Und wendet sich meist einer neuen Aufgabe zu. Als Gott den Menschen erschaffen hatte, sagt Genesis 1: 3: Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Ohne den Menschen lautete die Beurteilung: Gott sah, dass es gut war. Der Unterschied zwischen Mensch und dem Rest der Schöpfung wird in Genesis 1: 26 zum Ausdruck gebracht: Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als Abbild, uns ähnlich. Dem Menschen wird demnach eine besondere Stellung in der Schöpfung Gottes eingeräumt. Und wieder gilt, er handelt als Schöpfer immer gleichzeitig als Vater. Im Hebräerbrief 1: 2 wird diese Tatsache ausgedrückt: …durch den (seinen Sohn) er auch die Welt erschaffen hat. Wenn also der Mensch ein Abbild ist von Gott, dann ist dieser ein Vorbild (genau genommen ein „Nachbild“, auch für den Sachverhalt Vater.
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Der Begriff Vater wird im starken Gegensatz zu den Begriffen Schöpfer und Richter nicht durch eine Handlung oder Tätigkeit definiert, sondern durch eine Beziehung, eine Beziehung durch Verwandtschaft, im Gegensatz zu Beziehungen durch ein Amt oder eine Aufgabe, eine Rolle, wie beim Richter oder Schöpfer, oder auch Anwalt. Der Begriff Vater ist ohne ein Gegenüber eigentlich undenkbar oder unsinnig. Das Kind erst macht den Vater zum Vater, oder die Mutter zur Mutter. Auch der Begriff Kind macht ohne Eltern keinen Sinn. Es ist eine Beziehung zwischen zwei unbedingt zusammen gehörenden Personen, die nicht aufhört, selbst nicht mit dem Tod einer der beiden oder beider Teile. Auch ein abwesender Vater bleibt der Vater seines Kindes. Der Begriff Vater ist also größer als die beiden anderen.
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Im jüdisch-christlichen Verständnis und auch im Islam wird Gott die Rolle des Schöpfers des Universums zugestanden. In allen drei Religionen ist er auch der Richter, ein- wenn nötig - strafender Gott. Wenn auch mit unterschiedlichen Traditionen. Wir haben diese Aspekte gerade kurz gestreift, aber wollen uns wieder auf den Aspekt des Vaters konzentrieren. Die Vaterschaft Gottes wird vor allem im Christentum betont. Und das aus dem Grund, weil Jesus in mannigfaltigster Weise davon gesprochen hat in seinen Worten, die uns die vier Evangelien überliefern. Wenn man so will, war es der Kern seiner Botschaft: Als Sohn Gottes vom Vater im Himmel zu berichten. Deshalb ist die Kernbotschaft seiner Kreuzigung nicht die Notwendigkeit einer stellvertretenden Strafe, sondern die Offenbarung des Vaterherzens Gottes. Es wäre sowieso angemessen, diesen Begriff stellvertretene Strafe zu ersetzen: Jesus übernimmt oder trägt die Verantwortung, wie ein großer Bruder, der seine kleineren Geschwister beaufsichtigt. Er ist jedoch kein Anwalt vor unserem Vater, denn dann wäre er automatisch einer, der petzt und unsere Vergehen verrät! Mehr dazu später in der Josefs-Geschichte.
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Vielleicht könnte man diese für manche völlig neuen Gedankengänge besser nachvollziehen, wenn man den Begriff Gott vom Begriff oder von der Person Vater, zumindest vorübergehend in den Gedanken, trennt. Deutlich wird das auch im folgenden Kapitel „Von Gott zum Vater“, das den Weg Jesu am Kreuz beschreibt. Das traditionelle christliche und jüdische Gottesbild, mit allen seinen untergeordneten Attributen wie Schuld und Sünde, Vergebung und so weiter, erscheint uns unzureichend, um die volle Dimension der Beziehung Gott - Mensch zu beschreiben, die sich im Kreuz von Golgatha anschaulich verdichten lässt. Wir sollten uns bewusst werden, dass wir zwei völlig verschiedene Perspektiven vor uns haben: 1. die irdische, sozusagen die von unten, die der Menschen und 2. die von oben, oder die himmlische Sichtweise des Vaters. Zur irdischen könnte man selbst Aussagen aus der Bibel zählen, die traditionell der himmlischen Perspektive zugeordnet werden. Wie die ganze Fragestellung von Schuld und Sühne.
Von Gott zum Vater
Jesus ruft nach dem Text sowohl des Matthäus- als auch des Markus-Evangeliums aus: Mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen? Dieser verzweifelte Ausruf ist nicht nur ein Zitat aus Psalm 22, wir denken er drückt Jesu bodenlose Verzweiflung aus. Er, der sich als Sohn Gottes versteht, fühlt sich Mutter-Seelen-allein, allein gelassen von Gott.
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Erst später, beim Durchreißen des Vorhangs im Tempel, sagt er laut: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Zusammenfassen möchten wir diese beiden letzten Worte Jesu am Kreuz mit folgender These: Jesus, der von sich behauptet hat: „Ich und der Vater sind eins“, dringt bei seinem Todesleiden am Kreuz durch zum Wesen Gottes, und damit zum Wesentlichen des Gottesbegriffes. Jesus zeigt damit uns Menschen, was wirklich zählt, worauf wir wirklich bauen können. Nicht auf einen gnädigen oder richtenden Gott, sondern auf einen himmlischen Vater. Jesus geht in seinen Todesqualen selbst den Weg, den er uns in seiner Zeit als Wanderprediger in seinen Worten gewiesen hat: von Gott zum Vater.
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Ein Vater muss seinen Kindern nichts vergeben. Das ist unseres Erachtens der radikalste Standpunkt, den man hier vertreten kann. Und von dem wir von Herzen überzeugt sind. Trotzdem bedarf der Mensch der Vergebung, der Versöhnung, um seiner selbst willen. Und manchmal braucht es auch Erziehung. Im „richtigen“ Leben hier auf Erden und auch bei unserem himmlischen Vater – Väter erziehen ihre Kinder, wenn es nötig ist. Doch hier darf man nicht die Verhältnisse hier auf Erden auf Gott projektieren. Erziehung Gottes ist nie Strafe und erst recht nicht ewige Verdammnis. Auch wenn manche Eltern hier auf Erden es so handhaben. Und so sehen wir es bei unserem himmlischen Vater, er verstößt nicht für immer in eine „ewige Hölle“, ein Begriff, der sich übrigens nicht in der Bibel wiederfindet, wenn wir in den Urtext sehen. Der Tag des Gerichts war längst auf Golgatha. Denn Jesus spricht vom Gericht und von Gerechtigkeit im Zusammenhang mit seiner Kreuzigung (Johannes 12: 31-33). Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben würde.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Eine Strafverfolgung von Verbrechen hier auf Erden wird nicht in Abrede gestellt. Nein, viel mehr, diese soll erfolgen, selbst wenn ein überführter Täter Reue zeigt. Strafe ist eine rein inner-menschliche Angelegenheit, für den himmlischen Vater gibt es diesen Begriff gar nicht, denn uns trennen Welten, und eine „Decke“, die von „Oben“ undurchdringlich und undurchsichtig ist durch Jesus und sein Sterben am Kreuz.
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Vergleichen wir diese These mit der gängigen Sichtweise des Kreuzes vieler gläubiger Christen, die sich aus der Tradition der Kirche (ob Katholizismus, Protestantismus oder Freikirche) und auch aus vielen Bibelstellen speist. Dort bedeutet der Kreuzestod Jesu ein stellvertretendes Sühneopfer. Jesus bezahlt am Kreuz für die Schuld und Sünde (besser Zielverfehlung) der Menschheit. Er nimmt stellvertretend für uns Menschen die Strafe Gottes auf sich, den Tod. Wie Martin Luther gemäß 2. Korinther 5: 12 formuliert: O Jesus, Du bist meine Gerechtigkeit, ich aber Deine Sünde. Insbesondere trägt diese Interpretation des Kreuzes dem traditionellen Verständnis vieler Textabschnitte der Bibel Rechnung, die sich ja sehr eingehend mit dem Gottesbild eines richtenden und heiligen Gottes beschäftigen, dem Gott, der Schuld bestrafen muss. Die Begrenztheit dieser Sicht, die sich insbesondere auch zu den zentralsten Aussagen Jesu zu seiner eigenen Person ergeben (siehe unten), wird den meisten Menschen nicht immer offensichtlich, vor allem in christlichen Kreisen selbst.
Dieses Buch versucht eine andere, für viele vielleicht neue Perspektive aufzuzeigen. Eine neue, erweiterte Sicht, die ganz deutlich im zweiten großen Kapitel „Geboren werden“ beleuchtet wird. Es bedurfte eines Jesus, um uns Menschen in letzter Konsequenz die Existenz eines himmlischen Vaters vor Augen zu malen, wenngleich das Alte Testament bereits in relativ begrenztem Rahmen davon spricht:
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Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten. Psalm 103: 13
Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch. Jesaja 66: 13
Gib mir dein Herz, mein Sohn. Sprichwörter 23: 26
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Kurz zusammengefasst: Das Ziel unseres Lebens ist eine doppelte Heimkehr: 1. zum Vaterherzen Gottes, nämlich dieses entdecken schon hier auf Erden und 2. später zu ihm persönlich in das „himmlische Vaterhaus“. Und Jesus Christus spielt dabei die entscheidende Rolle. Für jedermann. Egal, ob er an ihn „glaubt“ oder nicht.
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Zugleich ist diese Heimkehr zu Gott eine Heimkehr oder ein Entdecken unseres eigenen Herzens. Gott hat in jeden Menschen einen göttlichen und verborgenen Keim gelegt, der sich vielleicht nur als eine unklare Sehnsucht präsentiert, oder gar total negativ und lebenszerstörend erscheint. Vielleicht kann die Botschaft dieses Buches Ihnen ein Schlüssel für das Verständnis des Lebens werden, für Ihr eigenes Leben und für das Leben schlechthin. Sören Kirkegaard, ein bedeutender christlicher Philosoph meinte: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts“. Darin liegt viel Weisheit, doch möglicherweise erschließt sich für uns alle der Sinn unseres Lebens um ein gutes Stück mehr mit dem Verständnis des Prinzips des Vaterherzens Gottes bereits beim „Vorwärts-Leben“.